«Erst das Vergnügen, dann das Vergnügen!» Die drei «Winterbadenixen» Jolanda Henke, Sigi Macheleidt und Brigitte Boss (v.l.) in Macheleidts Wohnzimmer in Brienz. Foto: Hans Peter Roth
Wenn die Badesaison gar nie endet
BRIENZ/THUN Warum tun sie sich das an? Auch im Winter baden Menschen in den Oberländer Seen. Und sind begeistert. Dafür haben sie viele Erklärungen.
Hans Peter Roth
«Zurzeit ist es gar nicht so kalt.» Sigrun (Sigi) Macheleidt spricht von der aktuellen Wassertemperatur im Brienzersee. Die beträgt 6,5 Grad. «Komfortabel fürs Bad», wirft Jolanda Henke ein. Die «Winterbadenixen», die sich in Macheleidts Wohnzimmer an der Hauptstrasse in Brienz versammelt haben, lachen. Die Vorfreude aufs Eintauchen ins eiskalte Wasser ist gross. Warum tut man sich das an und freut sich auch noch drauf? Doch zuerst ist Tee und hausgemachter Kuchen mit Nidle angesagt. Sigi Macheleidt schmunzelt. «Erst das Vergnügen, dann das Vergnügen!»
Die pensionierte Physikerin beschloss 2020, auch im Winter nicht auf das erfrischende Bad im Brienzersee zu verzichten. «Nach dem Sommer ging ich durch den Herbst bis in den Winter weiterhin Tag für Tag in den See und konnte mich so sukzessive ans Abkühlen gewöhnen.» Heute möchte sie das Winterbaden nicht mehr missen. «An einem Tag ohne Bad im See fehlt mir etwas.» Manchmal steige sie gar zweimal am Tag ins Wasser.
«Suchtfaktor»
Brigitte Boss, die Dritte im Bunde («manchmal sind wir auch fünf»), praktiziert das Winterbaden bereits seit neun Jahren. Auch sie begann zum «Akklimatisieren» im Sommer. «Ich liebe es, es ist gut für die Durchblutung und stärkt mich», erzählt die Pflegefachfrau: «Seither habe ich wärmere Füsse und weiss nicht, wann ich das letzte Mal krank war.» Das Bad im eiskalten Wasser sei wie ein «Reset». Beim Rausgehen fühle sie sich «einfach unglaublich gut. Sorgen, düstere Gedanken, alles Schwere ist wie weggelöscht.»
Jolanda Henke, Lokführerin bei der Berner Oberland-Bahn, spricht vom «Suchtfaktor». Der Einstieg ins Wasser zwar «chli grusig», das Gefühl danach aber unvergleichlich. «Pure Freude.» Sigi Macheleidt bekräftigt: «Nach jedem Kaltbad fühle ich mich frisch, fröhlich und befreit.» Dazu komme das Gruppengefühl. Das gemeinsame Baden sei motivierend und intensiviere das Erlebnis.
Die drei «Winterbadenixen» Sigi Macheleidt, Jolanda Henke und Brigitte Boss (v.l.) im Brienzersee. Foto: Hans Peter Roth
Dann geht’s los. Ausgerüstet mit grossem Frotteetuch, Fusstuch, Wassersandalen und Mütze machen sich die drei auf zum See. «Im Winter nachts zu baden ist übrigens ein ganz besonderes Erlebnis», erzählt Henke. Warum? «Dann ist auch das Badekleid überflüssig.» Alle lachen. «Und in der Dunkelheit sieht man die Kälte nicht so», ergänzt Macheleidt, bevor es am Strand ans Eingemachte geht.
Flaches Hecheln, stossweises Prusten
Atemberaubend schnell steigen die drei Damen in den mit 6,5 Grad atemberaubend «warmen» Brienzersee. Der Schreibende ahmt es nach und ist als Letzter drin, dafür auch als Erster wieder raus aus dem Wasser. Flaches Hecheln wechselt sich mit stossweisem Prusten. Die Kälte, die den zitternden Körper umfängt, brennt fast. Dann ein Moment des Sich-Ergebens. Erstaunlich. Plötzlich ist die Kälte erträglich, der Atem ruhiger. Man ist sowas von da, im Moment, genau jetzt. Doch der Ruf zur Flucht ins Frotteetuch folgt bald.
Die drei Winterbadenixen sind standhafter. Das Wasser bis zum Hals, schwimmen und plantschen sie unverdrossen im See und folgen fröhlich albernd einer krass klingenden Regel: «Eine Minute pro Grad.» 6,5 Minuten in dieser Klapperkälte? Vier bis fünf sind es dann am Ende doch. «Wir baden übrigens bei jedem Wetter», betont Brigitte Boss, als die drei endlich aus dem Wasser waten. «Ob Regen, Wind, Wellen oder Schneegestöber, egal.»
18 Grad ist «füdleläi»
«Bei grosser Kälte ist es besonders schön», meint Sigi Macheleidt, wieder eingepackt in dicke Kleider auf dem Weg zurück in die wärmende Wohnstube. Dann dampfe der ganze See. «Wie ein Thermalbad.» Kalt sei, wenn Steinchen am Badekleid und Badetuch klebten, fügt Jolanda Henke lachend an: «Weil sie angefroren sind!» Dagegen sei es jetzt geradezu angenehm. Und im Sommer? «Da ist mir der See fast zu warm.» 18 Grad Wassertemperatur empfinde sie beinahe als «füdleläi».
Vier «Winterbadenixen» beim Eisbaden im Schwanderbach in Schwanden bei Brienz im Januar 2023. Foto: Sepp Buholzer
Kneippen der besonderen Art im Derflibach bei Brienz. Foto: Sigi Macheleidt
Zurück in der Stube versucht Sigi Macheleidt einfach zu umreissen, warum Winterbaden euphorisieren kann. «Weil durch den Kältereiz die Durchblutung stark angeregt wird, erfolgt eine bessere Versorgung aller Organe und Zellen mit Sauerstoff.» Die positive Wirkung auf Herz und Hirn stärke das Herz-Kreislaufsystem und man werde klar und wach im Kopf. «Alle Körperfunktionen werden aktiviert.»
Zudem werde das Immunsystem durch vermehrte Produktion weisser Blutkörperchen gestärkt. «Dazu kommt das Wohlbefinden, weil unser Organismus die Glückshormone Adrenalin und Serotonin sowie andere entzündungshemmende Hormone ausschüttet.» Kein Wunder, freut sich die 77-Jährige, schon am nächsten Tag wieder in den 6,5 Grad «warmen» Brienzersee zu steigen.
Thuner «Biohacker» Rolf Duda
«Ganzer Cocktail an Glückshormonen ausgeschüttet»
«Ein Eisbad bringt die im Kopf kreisenden Gedanken innerhalb einer Millisekunde zum Stillstand.» Dies sagt Rolf Duda, wohnhaft in Thun. Er gilt als bekanntester Biohacker der Schweiz.
Enthusiastische Winterbadende gibt es auch am Thunersee. Regelmässig in den See, dessen Temperatur zurzeit mit dem Brienzersee vergleichbar ist, geht Rolf Duda. «Ich nutze diese Zeit ganz für mich, um zu einer inneren Ruhe zu finden und mich mit der Natur zu verbinden.» Nach dem kalten Wasser werde ein «ganzer Cocktail an Glückshormonen ausgeschüttet», erklärt der seit 2012 in Thun wohnhafte «Entrepreneur». «Die mögen wir halt.»
Mehr Frauen als Männer
Als Unternehmensberater und Geschäftsführer mehrerer Firmen habe er lange Zeit unter einem konstant hohen Stresslevel sowie überwiegend sitzender Tätigkeit gelitten. Bis er mit dem Thema «Biohacking» (siehe Box) in Berührung kam. Und seinem ersten Eisbad. «Dieses brachte die im Kopf kreisenden Gedanken innerhalb einer Millisekunde zum Stillstand», erzählt Duda. Daraus erwuchs sein Antrieb, «anderen näher bringen zu wollen, wie man trotz Bürojob und Verpflichtungen gesund und glücklich leben kann und dabei der besten Version von sich selbst immer näherkommt».
Heute gilt Rolf Duda als bekanntester Biohacker der Schweiz. Rund 1500 Menschen bringt er laut eigenen Angaben pro Jahr durch ein Eisbad. «Im Winter etwa 1000 davon», die meisten im Thunersee und Berner Oberland. Dabei beobachtet er, dass sich deutlich mehr Frauen als Männer fürs Winterbaden erwärmen. «Im Eis ist es für die Frauen scheinbar viel entspannter als für uns Männer», meint er augenzwinkernd. Frauen stellten in seinen Workshops auch weit mehr Fragen und seien meist diejenigen, die den Mann dann «dahinzwingen». Vorsichtsregeln beachten «Eisbaden ist momentan im Trend», stellt Rolf Duda aka «Peakwolf» fest. «Aber nicht ohne Gefahren», mahnt er: «Ich würde jedem empfehlen, nicht alleine zu baden und sich mit den wichtigsten Grundregeln (https://de.swisscoldtraining.ch/) vertraut zu machen.» Zudem rät er, nicht länger als zwei Minuten im eiskalten Wasser zu verweilen. Da habe man alle «Trigger» (Auslöser) für die vielen körperlichen und mentalen Vorteile gesetzt. «Mehr ist nur für das Ego und schwächt das Immunsystem.»
Rolf Duda beim entspannten Eisbaden. Foto: Peakwolf
Was ist Biohacking?
Beim Biohacking gehe es darum, den eigenen Körper kennenzulernen und dessen Funktionsweise zu verstehen. Dies sagt Rolf Duda aus Thun, der als bekanntester Biohacker der Schweiz gilt. «Ein Biohacker strebt an, zur bestmöglichen Version seiner selbst zu werden und dabei auf gesunde Art seine Leistungsfähigkeit zu verbessern.» Dabei wende er kleinere und grössere Tipps und Tricks, neudeutsch «Hacks» an, um das Ziel zu erreichen. «Hierbei kann es sich beispielsweise um Atemtechniken, das Umstellen oder Ergänzen der Ernährung oder auch eine Veränderung des Schlafverhaltens handeln.»
Bereits in den 1950er-Jahren empfahl der tschechische Hermetiker Franz Bardon in seinem Buch «Der Weg zum wahren Adepten», sich jeden Morgen kalt zu waschen oder zu duschen und die Haut zuvor mit einer Bürste zu schrubben. Dies entlaste unter anderem die Nieren, wirke erfrischend und beseitige Müdigkeit. (hpr)